Arne List ist Mitbegründer des Liberal-Islamischen Bundes. In dem Band »Muslimisch und liberal« [Hg. Lamya Kaddor] hat er in einem Beitrag aufgeschrieben, warum es eine muslimische Linke braucht. (Foto: privat)
Nach dem Mord an einem Pariser Lehrer und dem Attentat in Dresden kritisierten der Kolumnist Sascha Lobo und der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert, dass die deutsche Linke sich mit Kritik an islamistischem Terror zurückhalte. Damit machen sie es sich zu leicht, findet unser Gastautor Arne List. List ist Mitbegründer des Liberal-Islamischen Bundes (LIB) und würde sich selbst als »muslimischen Linken« bezeichnen. Der LIB versteht sich seit 2010 als emanzipatorische Perspektive jenseits von Islamismus und Nationalismus, als religiöse Heimat für Muslim:innen, die sich in traditionellen Zusammenhängen nicht wiederfinden. Es geht um ein Islamverständnis ohne missionarischen Eifer oder Exklusivitätsanspruch, ohne autoritäre Doktrin und Angstbilder von Gott.
Als Reaktionen auf die islamistisch motivierten Morde von Paris und Dresden veröffentlichten der Autor und Blogger Sascha Lobo und der Bundesvorsitzende der Jusos, Kevin Kühnert, auf Spiegel Online ähnlich lautende Appelle an die Linke, sich endlich mit dem Islamismus auseinanderzusetzen und eine falsche Scham abzulegen: »Wenn die politische Linke den Kampf gegen Islamismus nicht länger Rassisten überlassen will, muss sie sich endlich mit diesem blinden Fleck beschäftigen«, schreibt Kevin Kühnert. »Die deutsche Linke – und auch die Liberalen und Bürgerlichen – haben zweifellos versäumt, eine nichtrassistische Islamismuskritik zu entwickeln«, heißt es bei Sascha Lobo. Beides klingt so, als hätte es diese Auseinandersetzung bisher nie gegeben. Das ist in dieser Pauschalität sicher nicht richtig.
Doch selbst wenn man der These zustimmt, dass große Teile der Linken sich vor einer kritischen Auseinandersetzung mit dem radikalen Islamismus wegducken, werfen diese Stellungnahmen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Denn: Wer ist überhaupt »die Linke«, und was ist »der Islamismus«?
Zunächst: Selbstverständlich sind die barbarischen Angriffe von Paris und Dresden zu verurteilen. Auch viele Linke tun dies. Offensichtlich tun sich manche dabei jedoch mit dem folgenden Spagat schwer: Einerseits dem komplexen Phänomen des Islamismus gerecht zu werden und andererseits nicht die rassistischen Zuschreibungen der Rechten zu übernehmen. Was sowohl Lobo als auch Kühnert in ihren Apellen jedoch völlig übersehen: Es gibt nicht nur eine mehrheitsdeutsche, weiße, sondern auch eine muslimische Linke, die sich schon lange mit dem Islamismus auseinandersetzt. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen könnten der »mehrheitsdeutschen« Linken – an die sich die Appelle richten – helfen, das Problem besser in den Blick zu bekommen. Und darauf basierend Handlungsempfehlungen zu entwickeln.
Im folgenden möchte ich vier Thesen entwickeln, anhand derer wir als Linke versuchen könnten, dem Phänomen des Islamismus gerecht zu werden - ohne uns wegzuducken, aber auch ohne uns auf rechte Pauschalisierungen einzulassen, die nur dem Ziel dienen, die Taten von Extremisten zu nutzen, um gegen Muslim:innen insgesamt Stimmung zu machen.
1. ISLAMISMUS GEHÖRT ZUR MUSLIMISCHEN RECHTEN
Für eine linke Analyse ist es hilfreich, den Islamismus als »muslimische Rechte« zu verstehen. Islamist:innen leiten aus einem religiösen Anspruch einen politischen her. Sie betrachten den praktizierten, orthodoxen Islam als gesellschaftlich verbindliche Norm, die in die Gesetzgebung einfließen soll. Anders gesagt: Sie wollen ihre eigenen religiösen Überzeugungen zum Standard für alle machen.
Wenn Islamismus so allgemein definiert wird, wäre er der rechte Flügel eines »politischen Islams«. Dann wären alle Staaten »islamistisch«, in denen die Scharia als Rechtsquelle in der Verfassung steht. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass keine Zivilehe und damit keine interreligiösen Ehen erlaubt sind. Islamismus wäre in diesem Kontext allgemein die politische Bewegung, die sich der Zivilehe widersetzt. Wird die Zivilehe zugelassen, wie in der formal laizistischen Türkei, ist der Staat selbst nicht »islamistisch«. Links ist, dies zu fordern oder zu verteidigen. Das bezieht sich auch auf andere Politikfelder wie die Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen, Akzeptanz von Religionswechsel und Atheismus oder Frieden mit Israel.
Doch nun wird es schwierig: Es stellt sich nämlich die Frage, ob islamistische Parteien, die all dies akzeptieren, überhaupt noch als »islamistisch« bezeichnet werden können, oder ob dann nicht eher von »Postislamismus« die Rede sein müsste. Wenn wir sagen, ab da wäre von »Islamismus« nicht mehr die Rede, gibt es aber trotzdem noch die muslimische Rechte und konservative Islam-Vorstellungen. Beides begrifflich genau zu fassen und voneinander abzugrenzen, wird niemals vollständig gelingen. Aber es muss differenziert werden, da mit einer universalen Kampfansage nur die Möglichkeiten auf Reformen und Kompromisse zerschlagen werden. Damit werden rechtspopulistische, muslimfeindliche Parolen bedient.
2. DIE MUSLIMISCHE RECHTE IST HETEROGEN
Unter dem Begriff »Islamismus« werden klassischerweise die drei Bewegungen des Salafismus/Wahhabismus, der Muslimbrüder und der iranischen Revolution verstanden. Diese drei Strömungen stehen im erbitterten Widerstreit zueinander und sind daher nicht homogen. Und es gibt, wie oben gezeigt, eine muslimische Rechte, die nicht nur in diesen radikalen Formen existiert, sondern die übliche Staatsräson in Teilen der muslimischen Welt widerspiegelt.
Es gibt kaum ein Bündnis in der muslimischen Welt, an dem nicht auch zumindest moderate Islamist:innen beteiligt wären. Dies hat seine Entsprechung im politischen Christentum in Deutschland, dessen Hauptströmung die CDU ist. Die Linke in Deutschland ist allgemein in der Lage, die CDU von der AfD oder gar der NPD zu unterscheiden. Genauso sollten muslimische und nicht-muslimische Linke in Deutschland den Unterschied etwa zwischen konservativen Moscheeverbänden wie der Ditib – die man selbstverständlich aus anderen Gründen kritisieren kann – und Organisationen wie der panislamischen, transnationalen Hizb-ut Tahrir-Bewegung kennen, die ein islamisches Kalifat auf Grundlage der Scharia fordert. Während AfD und NPD bekämpft werden müssen, kann man mit der CDU koalieren. Selbst die Linkspartei ist dazu auf Länderebene bereit, wie Thüringen zuletzt gezeigt hat. Die deutsche Linke wäre borniert, wenn sie der muslimischen Linken nicht ebenso zugesteht, innerhalb der muslimischen Rechten genauso zu differenzieren.
Von daher ist die Forderung an die Linke, »den Islamismus« noch stärker bekämpfen zu müssen als bisher, irritierend. Das Problem ist leider allzu oft: dass linke, demokratische Kämpfe in der muslimischen Welt fehlgedeutet werden als islamistisch motiviert, und dass die Dämonisierung der muslimischen Rechten insgesamt dazu führt, auch nicht-demokratiefeindliche konservative Kräfte aus dem normalen politischen Diskurs auszugrenzen.
3. EINE LIBERALE DEMOKRATIE MUSS DIE DEMOKRATISCHE RECHTE AUSHALTEN
Wer sagt, die Linke solle sich mit Islamismus mehr auseinandersetzen, ignoriert, dass die Rechte in der muslimischen Welt keineswegs immer religiös ist. Der säkulare Faschismus ist ebenso präsent und das Verhältnis zwischen säkularen und religiösen Rechten oft fließend. Ein Kampf gegen Rechts, der nur auf die religiöse Rechte zielt, aber gleichzeitig die säkulare Rechte hofiert, ist nicht genuin links. Dabei hat eine demokratische, emanzipatorische Linke nichts zu gewinnen, sondern nur ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Im Westen spielt der Islamismus zudem keine nennenswerte politische Rolle. Es gibt keine islamische Partei, die auch nur den Hauch einer Chance hätte, jemals politische Macht zu erlangen. Es gibt in SPD, Grünen und Linkspartei allerdings die Strömungen der selbsternannten Säkularen und Antideutschen, die die Gefahr, die zweifelsohne von dem dschihadistischen Terrorismus ausgeht, auf die konservativen Islamverbände und ihr – in Teilen sicher problematisches – Islamverständnis ausdehnen. Das birgt die Gefahr, den muslimischen Mainstream an sich als islamistisch und somit bekämpfenswert zu markieren – statt wichtige Debatten etwa über die Rolle der Frau und Rechte von LGBTQI-Menschen zu führen.
Diese simple Konfrontation kann realpolitisch nicht funktionieren und sie wäre menschlich höchst ungerecht. Denn überall in der organisierten muslimischen Szene befinden sich linke und liberale Akteur:innen, die aktiv, in Zusammenarbeit mit der nicht-religiösen Linken, aber auch im Rahmen der Islamkonferenz und anderen staatlich geförderten Formaten tagtäglich an allen Fronten gegen den radikalen Islamismus und eine Ideologie der Spaltung angehen.
Der Islam ist im Westen eine Minderheitenreligion und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Von den etwa fünf Millionen Muslim:innen in Deutschland hegt nur eine sehr kleine Minderheit dschihadistische Einstellungen. Dies entspricht im Verhältnis dem Anteil neonazistischer Gefährder:innen in unserer Gesellschaft. Die überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslim:innen und ihre politischen Vertretungen, die großen Islamverbände, bekennen sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, auch wenn sie nicht explizit links sind. Säkularismus bedeutet, dass deren konservative, religiöse Positionen den Staat erst einmal nichts angehen, solange sich die Bürger gesetzestreu verhalten und der gesellschaftliche Frieden gewahrt ist. Infrage stellen darf man reaktionäre Positionen aber durchaus. Das zu tun ist genuine Aufgabe der muslimischen und nicht-muslimischen Linken.
4. WIE VERANTWORTLICHE ISLAMPOLITIK AUSSEHEN WÜRDE
Bezogen auf das Ausgangsthema heißt das: Deutsche Islampolitik muss mit dem muslimischen Mainstream zusammenarbeiten, um Extremismus und Terrorismus schon weit im Vorfeld zu begegnen. Die Linke muss eine solche Islampolitik mittragen, denn sie ist der beste Garant gegen gesellschaftliche Spaltung: Religionsfanatismus auf der einen und Rassismus auf der anderen Seite.
Der muslimische Mainstream in Deutschland ist sunnitisch, orthodox und konservativ geprägt und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Das muss man nicht mögen. Will man aber demokratische, muslimische Kräfte in Deutschland stärken, sollte das Muslim-Sein genauso akzeptabel werden wie das Christ- oder Jüdisch-Sein. Wenn Jugendliche mit einem Islamverständnis geködert werden sollen, das sich in Opposition zu Demokratie, dem Westen oder allem, was Linken »heilig« ist, versteht, müssen alle demokratischen Linken intervenieren. Davon, dass sich solche Interpretationen durchsetzen, sind wir – zumindest nach meiner Wahrnehmung – aber auch weit entfernt.
Ohne die real existierende muslimische Linke einzubeziehen, wird kein linker Islamismusdiskurs – wie Kühnert und Lobo ihn fordern – zielführend sein. Diese muslimische Linke sichtbarer zu machen, wäre dringendste Aufgabe einer wirklich sinnvollen, gesamt-linken Auseinandersetzung mit dem Islamismus und weiteren Fragen wie Integration, Islampolitik, Postkolonialismus, Diversität und Gender.
Wenn ich die Einwürfe von Kevin Kühnert und Sascha Lobo richtig verstehe, wenden sie sich in erster Linie gegen einen kritiklosen »Verniedlichungsrassismus« auf der Linken, der Muslim:innen alles durchgehen lässt und sogar Terrorismus wegargumentiert, weil man die Schuld immer bei sich selbst sucht und Muslim:innen ohnehin nicht ernstnimmt. Damit sich das ändert, ist es wichtig, dass die nicht-muslimische Linke anfängt, die muslimische Linke ernster zu nehmen. Wir sollten darüber ins Gespräch kommen!
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