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BERICHTERSTATTUNG, DIE VERLETZT

ANTISLAWISCHE GEWALT– EIN BLICK AUF DIE MEDIALE BERICHTERSTATTUNG IN DEUTSCHLAND

LIEBE TAGESSCHAU, DAS IST EIN FEMIZID

FÜR VIELFALT IN DEN MEDIEN 

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»ICH WOLLTE GLEICHWERTIG SEIN«

MIGRATION UND SOZIALER ABSTIEG - DREI FRAUEN SPRECHEN ÜBER IHRE ERFAHRUNGEN.


»Ja, aber was machst du wirklich?« Wer schon einmal gekellnert hat, kennt diese Frage nur zu gut. Von Kolleg:innen, Gästen oder einfach nur der neuen Partybekanntschaft. So als ob Kellnern kein richtiger Job wäre. Etwas, das man entweder aus Geldnot, neben dem Studium oder sonst wie übergangsweise macht.


Mit welchem Gefühl auf die Frage nach unserem Beruf geantwortet wird, hängt stark von dem gesellschaftlichen Stellenwert des Berufsbildes ab. Davon, wieviel Ansehen ein Beruf mit sich bringt. Ärzt:innen zum Beispiel gelten oft bekanntlich fast als göttliche Wesen in Weiß und so wundert es nicht, dass dieser Beruf ganz weit oben auf der Wertschätzungsskala steht. Zeitungen titeln: »Vom Taxifahrer zum Topmediziner«. Bedeutet wohl in diesem ganz konkreten Fall, dass der iranische Taxifahrer weiter unten in der »Nahrungskette« anzutreffen ist als der iranisch-stämmige Arzt in Deutschland. Für Migrant:innen gilt dann noch zusätzlich: Was sie vor der Migration gemacht haben, spielt hierzulande oft keine Rolle, sie müssen, bei uns einmal angekommen, oft mit weniger anerkannten Jobs anfangen, als es eigentlich ihrer Ausbildung oder Berufserfahrung entspräche. Und immer wieder sind sie dabei damit konfrontiert, dass das In-Arbeit-stehen als ein wichtiger Indikator für eine gelungene Integration betrachtet wird: »Lampedusa-Flüchtlinge werden zu Unternehmern«, »Früher Soldat, heute Bäcker«, »Mehrheit der Syrer bekommt Hartz IV«. Migrant:innen und Geflüchtete werden geduldet, wenn sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Wenn sie – wie es oft so schön heißt – einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Deutsche Medien scheinen hier oft die Angst zu spiegeln, dass mit Migrant:innen vor allem auch ein Zuwachs an potentiellen Hartz IV-Empfänger:innen ins Land kommen könnte, und darüber hinaus auch andere Probleme, die oft mit sozialem Abstieg assoziiert werden –wie der Alkoholismus: »Aussiedler und Alkoholismus. Der Suff zieht mit«.


In einer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft ist man nur dann ein vollwertiges Mitglied, wenn man arbeitsfähig und arbeitend ist. Wer krank ist und zum Arzt geht erhält eine ‚Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung‘ – kurz AU. Doch was, wenn die eigene Herkunft, Migrationsgeschichte und Abschlusszeugnisse einer AU gleichen? Wenn man seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, weil man migriert ist? Was macht das mit dem Selbstwertgefühl? Drei Frauen sprechen über ihre Erfahrungen.



»SIE DÜRFEN NICHT MAL EIN PFLASTER AUFKLEBEN!«


1980. Hülya Toygar ist ausgebildete Augenärztin, als sie nach Deutschland kommt. Die Stimmung in der Türkei ist damals angespannt. Sie hat Angst, dass die Islamische Revolution aus dem Nachbarland Iran „rüber schwappt«. Ihr Ehemann bewirbt sich erfolgreich für eine Facharztausbildung in Deutschland. Die Pläne der beiden: In Deutschland bleiben bis zum Ende seiner Facharztausbildung, dabei arbeiten, Erfahrungen sammeln und dann zurück in die Heimat gehen. Doch es kommt anders. Wenige Monate nachdem sie in der nordrhein-westfälischen Stadt Mülheim an der Ruhr ankommen, wird nicht nur das erste Kind geboren, sondern die türkische Regierung vom Militär geputscht. Da der Ausbildungsvertrag ihres Ehemannes keine Verlängerung vorsieht, erhält das Paar nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und Hülya keine Arbeitserlaubnis. »Sie haben gesagt, wenn sie mir jetzt eine Arbeitserlaubnis geben, dann würde sich sicherlich die Zeit unseres Aufenthalts verlängern. Wir sollten ja wieder gehen. Waren nur Gäste. Ich habe heute noch die Sekretärin der Ärztekammer vor mir wie sie mir wortwörtlich gesagt hat ‚Sie dürfen nicht mal ein Pflaster aufkleben‘. Ich habe nicht mal die Erlaubnis bekommen in einer Klinik zu hospitieren.«


Um den Anschluss an ihren Beruf nicht zu verlieren, versucht Hülya anders an Kliniken heranzutreten, »aus freundschaftlichen und kollegialen Gründen.« Jeder Arbeitsschritt der jungen Augenärztin muss von deutschen Kolleg:innen abgesegnet werden, denn um ihren Abschluss anerkennen zu lassen, bedarf es einer Einbürgerungszusicherungsbescheinigung. Doch von dieser war die Familie zu diesem Zeitpunkt noch Jahre entfernt: »Ich wusste, dass meine Kollegen mich anerkannt und wertgeschätzt haben, das hat das aufgefangen. Aber dass ich kein Geld verdienen konnte, ist mir sehr schwergefallen. Plötzlich wird man zu jemanden, der den Ehemann um Geld bittet. Vorher waren wir auf Augenhöhe.« Hülya wird depressiv, über ihre Situation kann sie zu dieser Zeit mit niemandem sprechen. »Wenn du in einem fremden Land ganz allein bist und nur deinen Ehemann und deine Kinder hast und sonst niemanden kennst, fühlt man sich irgendwie schwach. Man nimmt das einfach alles so hin. Ich war jahrelang sehr einsam und habe die Entscheidung bereut.«


Nach fünf Jahren bewirbt sich das Paar auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Hülya darf nun die Gleichwertigkeitsprüfung ablegen. Sie soll beweisen, dass die in der Türkei erworbene Ausbildung der deutschen gleichwertig ist. Die junge Frau fällt durch den ersten Prüfungsversuch. Heute sagt Hülya, dass die Prüfung unfair verlaufen sei. Fehler wurden mit »Macht man das in der Türkei so?« kommentiert. Bis zur Wiederholung hat sie ein Jahr und ist wieder Hospitierende – diesmal mit Genehmigung. Doch auch in dieser Klinik wird ihr das Operieren nicht beigebracht – man habe eigene Assistenzärzt:innen, die das lernen müssen. »Das waren für mich verlorene Jahre, da sich die Augenheilkunde in dieser Zeit enorm entwickelt hat. […] Später hatte ich zwar eine eigene Praxis, aber ich konnte nicht mehr operieren, da die Technik ganz anders war und ich das nicht gelernt habe. Das hat eine Lücke in meinem Leben gegeben. Ich wollte gleichwertig sein mit meinen Kollegen.«


Heute ist Hülya im Ruhestand. Sie nutzt ihr Netzwerk und Wissen, um die Rechte von Frauen in der Türkei zu stärken – wo sie wieder lebt.



»NATÜRLICH TUT MEIN HERZ AUCH WEH, ABER ICH MUSS GEDULD HABEN.«


2015. Fatma Alokla lebt in Hama, einer syrischen Stadt zwischen Aleppo und Damaskus, als sie mit Drillingen schwanger wird. Ihr Ehemann und sie wünschen sich schon lange Kinder. Eine künstliche Befruchtung macht den Wunsch greifbarer. In einer kalten Nacht wird sie von Bombenanschlägen wachgehalten, bekommt plötzlich Bauchschmerzen. Doch es herrscht strikte nächtliche Ausgangssperre. »Die Schmerzen wurden immer größer. Ich hatte nur meine Kinder in den Gedanken trotz der lauten Bombenanschläge. Am nächsten Morgen waren wir endlich im Krankenhaus.« Fatma hatte eine Frühgeburt. Doch da der Strom im Krankenhaus ausfällt, können ihre Kinder nicht versorgt werden: »Es gab für sie keine Chance mehr zu überleben. Zwei Stunden nach der Geburt sind meine Kinder aus dem Leben geschieden.« Zu dieser Zeit verschlechtert sich auch der Gesundheitszustand ihres Ehemannes. Dieser hatte vor einigen Jahren eine Nierentransplantation erhalten und ist auf Medikamente angewiesen – Medikamente, die er in Syrien nicht mehr bekommt. »Ich bin nicht aus beruflichen oder finanziellen Gründen nach Deutschland gekommen. In erster Linie war es eine Frage der Gesundheit.«


In Syrien arbeitete Fatma als Erzieherin. Ihr Abitur wurde zwar in Deutschland anerkannt, nicht jedoch ihre Ausbildung und jahrelange Arbeit mit Kindern. In Puhlheim findet sie eine Anstellung als Küchenmitarbeiterin in einer Kindertagesstätte. »Es musste nicht in meinem Beruf sein. Ich wollte auch einfach arbeiten. Ich hätte auch keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, wenn ich keine Arbeit gehabt hätte. Und bis zu dieser konnte ich auch keine Ausbildung machen. Und vom Jobcenter möchte ich auch nicht abhängig sein.« Am Anfang fällt es Fatma schwer zu akzeptieren, dass sie erst einmal nicht als Erzieherin arbeiten kann. Auch Freunde und Familie in Syrien konnten den Jobwechsel zunächst nicht begreifen. »Es war schwer das meiner Familie und meinen Freunden in Syrien zu erklären, aber am Ende ist es meine Wahl und mein Beruf – nicht ihre.« Sobald es ihrem Mann besser geht und er arbeiten kann, möchte sie eine Ausbildung zur Erzieherin machen. »Natürlich tut mein Herz auch weh, aber ich muss Geduld haben. Hauptsache meinem Mann geht es gesundheitlich besser.«


Vor wenigen Monaten erhielten Fatma und ihr Ehemann die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung.



»WIR SIND JETZT HIER. WIR LEBEN.«


2017. Nadia Abid kommt aus einer Journalist:innen-Familie. Nach ihrem Studium ist sie zunächst Lektorin und schreibt dann für Zeitungen und Zeitschriften in der pakistanischen Provinz Belutschistan. Ihr Thema: Frauenrechte. Ihr Ehemann ist zu dieser Zeit Kriminalreporter. Die Familie wird bedroht, der Ehemann auf der Straße angegriffen, vom Militär eingesperrt. »Eines Tages kam mein Mann nach Hause und hatte keine (Finger)Nägel mehr.« Die Familie flieht und erbittet Asyl in Deutschland. »Ein ganzes Jahr habe ich nur geweint und mich gefragt, was ich hier mache. Ich konnte die Sprache nicht und wusste nicht in welchem Bereich ich arbeiten kann.« Heute spricht Nadia fließend Deutsch und arbeitet als Stadtteilmutter in einem Randbezirk Berlins. Sie hilft anderen Migrant:innen dabei eine Wohnung, einen Sprachkurs oder Kitaplatz zu finden. »Ich fühle mich mit der Arbeit gut, mit meiner Wohnung. Ich bin zufrieden. Die Menschen, mit denen ich arbeite, sind wie Mütter und Schwestern. Am Leben sein ist wichtiger als Geld oder eine große Wohnung.« Nadia sagt, dass sie vieles, was sie gesehen hat, nicht vergessen kann und auch ihr Mann schreit noch heute in seinen Träumen. Mit ihm über das alte Leben sprechen, kann sie dennoch nicht. Zu tief sitzt der Schmerz. Manchmal setzt ihr Mann, der heute als Sicherheitsmitarbeiter tätig ist, dennoch an: »‘Was ist aus mir geworden? Früher war ich gut und heute?’ – Aber ich sage dann: ‘Stopp. Das ist okay. Wir sind jetzt hier. Wir leben. Vielleicht würden wir nicht mehr am Leben sein, wenn wir in Pakistan geblieben wären. Unseren Kindern geht es gut.’« Obwohl Nadia manchmal Angst um ihre Kinder hat – Angst vor rassistischen Übergriffen – sagt sie, dass ihre aktuelle Situation nun besser sei. «Ohne Angst leben ist eine große Sache. Das steht an erster Stelle. Man braucht zuerst Sicherheit. Später kommt alles andere. Wenn eine Person keine Sicherheit hat, dann kann man auch nicht leben.« Nadias Mutter lebt noch in Belutschistan. Sie haben sich seit vier Jahren nicht gesehen. Sobald Nadia eine Niederlassungserlaubnis erhält, möchte sie versuchen, einen Antrag auf Familiennachzug zu stellen.


Gerne würde Nadia wieder als Journalistin arbeiten. Vor kurzem hat sie sich in einem deutschen Medienhaus beworben. Eine Antwort steht noch aus.


IN ERSTER LINIE SIND WIR ALLE MENSCHEN


Die Frage nach der Erwerbstätigkeit zu beantworten, kann sehr unangenehm und schmerzhaft sein. Uns wird gesellschaftlich anerzogen, Menschen vor allem über ihre Erscheinung oder ihren Beruf Eigenschaften zuzusprechen. Im Kapitalismus wird der Wert eines Menschen über seine Arbeitsleistung definiert. An diese sind Klassenzuschreibungen geknüpft, die mit bewertenden Eigenschaften verbunden sind. Da gehen Schubladen auf: akademisch, ohne Abschluss, intellektuell, zielstrebig oder faul. Daher muss überlegt werden, ob und wie die Frage sensibel gestellt werden kann. Und auch wann das Nennen des Berufes in der Berichterstattung notwendig ist und einen Mehrwert darstellt oder ob es einfach nur Gewohnheit ist oder vielleicht sogar Vorurteile unbewusst untermauert. Reportagen über ‚Erfolgs- und Aufstiegsgeschichten‘ von Migrant:innen sind oft an berufliche Karriereschritte geknüpft, dabei zeigen persönliche Erfahrungen wie die von Hülya, Fatma oder Nadia, dass der Weg in das alte berufliche Leben nicht oder nur teilweise gelingt. Dass die Gründe dafür strukturell sind und nichts mit dem Können oder Wollen von Migrant:innen zu tun haben, muss auch in der Berichterstattung über Migration stets mitgedacht werden, um nicht Narrative von ‚schlecht ausgebildeten‘ oder gar ‚faulen‘ Migrant:innen zu reproduzieren.


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