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UNBELEIDIGT

ALISA SCHELLENBERG LIEST CAROLINE FOURESTS BUCH GEGEN IDENTITÄTSPOLITIK


»Der Kampf der Rassen hat den der Klassen verdrängt«, diagnostiziert die französische Autorin Caroline Fourest in ihrem Buch »Generation Beleidigt«. Wer sprechen darf und wer nicht, hänge nun von Identität ab. Alisa Schellenberg hat das Buch für BLIQ gelesen und findet: »Nur aufgrund von Identität zu canceln, das ist zu kurz gedacht«.

(Foto: David Pierce Brill)
















Perspektivwechsel, das sei doch so wichtig. Das schreibt mir eine Schwarze Bekannte, als ich ihr sage, dass ich endlich etwas von Caroline Fourest lese. Fourests Buch heißt »Generation Beleidigt: Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei – Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer«. Caroline Fourest schreibt als lesbische Frau, als Französin, als linke Universalistin. Als eine Antirassistin, die gegen das Patriarchat kämpft, als Redaktionsmitglied der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo.


Es geht in Fourests Buch darum, dass ausufernde Identitätspolitik die Meinungsfreiheit in Europa einschränken würde. Fourest glaubt, dass die Frage nach der Klasse, die in linken Kreisen gestellt wird, abgelöst wurde: durch die nach der »Rasse«. »Der Kampf der Rassen hat den der Klassen verdrängt. Die Frage ›Wovon sprichst du, Genosse?‹, die der gesellschaftlichen Klassenlage entsprechende Schuldgefühle erzeugen sollte, hat sich in Identitätskontrolle verwandelt«, argumentiert die Autorin.

Meine Bekannte sprach wohl von einem Perspektivwechsel, weil sie sich meiner Identität gewiss ist: Ich bin eine Schwarze Frau in Deutschland. An den meisten Tagen verorte ich mich als politisch progressiv. Ein Buch gegen Identitätspolitik aufzuschlagen, das müsste sich für mich so anfühlen, als würde ich aus einer kuscheligen Filterblase springen, in der Identität ein Zauberwort ist. Aber ich springe freiwillig, weil ich mich für Meinungsfreiheit interessiere. Außerdem wurde der im Oktober letzten Jahres erschienene Bestseller (April 2021) im Feuilleton der SZ und FAZ sehr gut gesprochen.


Ich suche in Twitter-Bios und Instagram-Profilen nach Identitäten, um herauszufinden, wer spricht: weiß, queer, Schwarz, hetero, Erstakademiker:in, cis, Arbeiterkind, they, them. Mit welcher Ausgangsposition wird geschrieben? Und: Warum? Hat der Journalist, der über Armut schreibt, auch Armut erlebt? Weiß die Journalistin, die über Hanau berichtet, was Rassismus bedeutet?


ANEIGNUNG VS. SELBSTZENSUR


In ihrem Buch kritisiert Fourest, wie eben diese Identitäten in den Medien und in der Kultur eingesetzt werden. Sie schreibt, wir würden unsere Identität nutzen, um zu versichern, dass wir überhaupt zu einem Thema sprechen dürfen. In meiner Bubble aus jungen Journalist:innen gibt es einige, die sagen, sie wollten gar nicht mehr über Identitäten schreiben, weil sie eben keine besondere hätten. Es stünde ihnen nicht zu. Andere wünschen sich von mir, ich würde viel mehr über Antirassismus berichten, weil ich das als Schwarze Frau eben am besten könnte. Fourest steigt genau hier ein.


»Generation Beleidigt« rankt um die These, dass wir unsere Freiheit einschränken würden und das Feld sogar den Rechten überließen, wenn wir nur noch jene sprechen ließen, die die passende Identität zu einem Thema haben. »Sag mir welcher Herkunft du bist, und ich werde dir sagen, ob du reden darfst!« Diese Einstellung in den sozialen Medien, in den Zeitungen, im Film und im Theater würde »Vielfalt und Mischung« zerstören und der »suprematistischen Rechten« in die Hände spielen. Wenn wir begännen, uns – je nach Identitätskategorie – selbst zu zensieren, dann erfüllten wir gewissermaßen den Wunsch der Rechten, Entscheidungen nach Hautfarbe und Geschlecht zu treffen. Ich stelle mir vor, dass Fourest die jüngste Entscheidung der Amazon Studios, nur noch mit Schauspieler:innen zu arbeiten, deren Identität mit jener des Drehbuchcharakters übereinstimmt, empört.


Fourest erklärt ihr Problem mit der neuen Identitätspolitik der Linken in Frankreich anhand der Geschichte der Schwarzen Autorin Tania de Montaigne. Für eine Buchreihe über heldenhafte Frauen schrieb de Montaigne über Claudette Clovin. Clovin war, wie Rosa Parks, eine der ersten Schwarzen US-amerikanischen Frauen, die sich 1955 weigerten, die dort in Verkehrsbussen vorherrschende Trennung zwischen Schwarz und weiß zu akzeptieren. Die Reihe wurde zum Erfolg. Die Geschichte wurde dann als Comic adaptiert, gezeichnet von der weißen Künstlerin Émilie Plateau. Der Comic heißt »Noire: la vie méconnue de Claudette Colvin«. Das war ein Problem. Der Verlag sperrte sich zuerst gegen das Wort »Noire«, also Schwarz, im Comic-Titel. Mit der Begründung, dass die Zeichnerin der Geschichte eben weiß sei und das Buch deshalb nicht Schwarz im Titel tragen dürfe. Die weiße Künstlerin würde sich die Geschichte der Schwarzen Frau aneignen, die sie illustriert. Fourest fand die Einstellung des Verlags so überzogen, dass sie dagegen anging. In diesem Fall sehe ich das so wie Fourest. Die Forderung des Verlags ist völlig überzogen, weil die Hautfarbe einer Zeichnerin, die sich mit der Geschichte einer Schwarzen Frau auseinandersetzt, nicht den Titel eines Buches bestimmen sollte.


IDENTITÄSPOLITIK ALS SCHMIPFWORT


Gleichzeitig stimme ich Bernadine Evaristo, der Autorin des wunderbaren Buchs »Mädchen, Frau etc.« zu, wenn sie in einem Interview mit der SZ sagt, dass Identitätspolitik inzwischen zu einem Schimpfwort geworden ist – ein Schimpfwort gegen Menschen, die sich völlig zurecht als Teil einer Minderheit identifizierten, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Auch Fourest stört sich in »Generation Beleidigt« nicht an der Identifikation selbst, sondern an subjektiven Sprechver- oder geboten aufgrund von Identität.


Was Fourest wohl damit meint, habe ich neulich auf Instagram beobachtet. Der Instagram-Account soyouwanttotalkabout von Jessica Natale, einer ehemaligen Wahlkämpferin für Bernie Sanders, verbreitet ehrenamtlich Infografiken über gesellschaftspolitische Themen in den USA, zum Beispiel über das Wahlrecht, das Recht auf Abtreibung oder den Einsatz in Afghanistan. 2,5 Millionen Menschen folgen dem Account. In der vergangenen Woche hat Natale innerhalb von drei Tagen einen Shitstorm erlebt, sich öffentlich entschuldigt, ihren Account umbenannt und einen Buchvertrag abgeblasen. Das Problem besteht aus zwei Teilen. Zum einen ist Jessica Natale weiß. Zum anderen heißt das Buch der Schwarzen Autorin Ijeoma Oluo »So You Want to Talk About Race«, also so ähnlich wie Natales Account. Beides, sowohl der Instagram-Account als auch das Buch, sind 2020 erschienen. Ijeoma deutete öffentlich an, Natale würde bewusst von der Phrase »So You Want to Talk About« profitieren, die sie mit ihrem Buch geprägt hätte. Daraus entstand ein wütender Shitstorm: der Account würde die Arbeit Schwarzer Menschen einsetzen, um daraus Profit zu schlagen. Natale würde ihr Weißsein absichtlich verschleiern, um mehr Follower zu generieren. Der Account heißt jetzt anders.


Es ist ärgerlich, dass die Werke beider Frauen einen ähnlichen Namen haben. Natürlich zeige ich mich solidarisch mit Ijeoma Oluo. Dass Schwarze Menschen für ihre Arbeit nicht gewürdigt oder bezahlt werden, passiert jeden Tag – mir auch. Seitdem ich Caroline Fourests Buch gelesen habe, frage ich mich aber, ob der große Shitstorm notwendig gewesen wäre. Ich finde, dass sowohl Olous Arbeit, als auch Natales Werk wichtig sind, um für soziale Gerechtigkeit und Antirassismus einzustehen. Und die Phrase existierte auch schon vor 2020. Die Identität der Macherinnen sollte in diesem Fall unbedingt beachtet werden, aber nicht alleinig im Vordergrund stehen. Nur aufgrund von Identität zu canceln, das ist zu kurz gedacht.


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