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VIC ATANASOV

»ALIS REIN POSITIVE DARSTELLUNG IST DER ERSTE SCHRITT«

BLIQ IM GESPRÄCH MIT JI-YOON AN


Die Netflix-Serie Squid Game hat mit ihrer Darstellung von Gewalt Debatten ausgelöst – dabei ist das nicht der einzige Aspekt, über den es sich zu sprechen lohnt. Unsere Autor*in Vic Atanasov und Charlotte Rathjen haben sich angeschaut, welche Rolle migrantische Charaktere spielen (hier geht es zum Kommentar). Für BLIQ sprachen sie auch mit der Filmwissenschaftlerin Ji-Yoon An. Sie gibt einen Einblick in derzeitige Entwicklungen im südkoreanischen Film und Fernsehen und erklärt, wie Klassismus und Rassismus dort aufgegriffen und verhandelt werden.



BLIQ: Warum thematisieren zurzeit südkoreanische Serien und Filme vermehrt soziale Ungerechtigkeiten?


Ji-Yoon An: Die Themen Kapitalismuskritik und Klassenunterschiede sind gerade überall sehr aktuell. Die Idee eines Spiels als Metapher für eine kapitalistische Gesellschaft ist nicht unbedingt Korea-spezifisch. Dennoch kann man sagen, dass Südkorea eine hyperkapitalistische Gesellschaft ist. Selbst verglichen mit Deutschland, wo Kapitalismus auch das herrschende System ist, ist es anders: In Südkorea benutzt man heute den Ausdruck ›neoliberaler Kapitalismus‹, weil die Marktwerte integraler Bestandteil aller Lebensbereiche geworden sind. Selbst private Angelegenheiten sind vom Markt bestimmt. Und diese Kritik am neoliberalen Kapitalismus ist ziemlich Südkorea-spezifisch.


Es ist ein sehr starker Moment der Serie, dass verschiedene Konflikte und Probleme über die Nebencharaktere sichtbar gemacht werden. Lass uns etwas über Abdul Ali, Spieler 199, sprechen. Wie wird das Thema Diskriminierung gegen Migrant:innen in der Serie über diesen Charakter verhandelt?


Der migrantische Arbeiter Ali weist auf ein riesiges Problem in Südkorea hin, das seit den letzten 15 Jahren immer weiter in den Fokus gerät: die Diskriminierung gegen migrantische Arbeiter:innen sowie gegen nordkoreanische Geflüchtete. In Südkorea leben die meisten nordkoreanischen Geflüchteten und es ist zahlreich belegt, dass sie von Südkoreaner:innen diskriminiert werden, weil sie sie für gefährlich halten. Sie bekommen seltener Jobs und müssen am Ende Gangs und kriminellen Welten beitreten. Das wird ja auch durch die Charaktere [in Squid Game] aufgegriffen.


Kannst du noch etwas mehr zu derzeitigen Debatten über Rassismus gegen Migrant:innen in Südkorea erzählen?


Migration ist immer noch ein sehr sensibles Thema in Südkorea, obwohl es schon seit zehn Jahren diskutiert wird. Zugewanderte Arbeiter:innen kommen seit ca. 20 Jahren nach Südkorea, und ich glaube, das erste Mal kam das ganze Thema um die 2000er auf, als es um Heiratsmigrantinnen ging (Anm. 1). Südostasiatische Frauen heirateten südkoreanische Bauern vom Land, wo diese keine Ehefrauen finden konnten. Das ganze wurde zu einem großen Ding. Denn auch ihre Kinder wurden oft rassistisch diskriminiert. Es gab viel Diskussion um migrantische Arbeiter:innen und diese Themen sind immer noch sehr schwierig. Wenn du heutzutage nach Südkorea gehst, sind viele Leute im Dienstleistungssektor, zum Beispiel Kellner:innen, oft nicht aus Südkorea. Das ist eine Veränderung der letzten zehn Jahre. Historisch betrachtet, war Südkorea ein ethnisch isoliertes Land und man war auf diese nationale Homogenität stolz. Bis ins späte 19. Jahrhundert hat sich Korea als ›Einsiedlerreich‹ verstanden. Es hat weder internationalen Handel betrieben noch die eigenen Grenzen für andere geöffnet. Letzteres wurde erst durch Japans Kolonialherrschaft erzwungen. Und wenn wir über die koloniale Geschichte nachdenken, ist die Antwort offensichtlich Nationalismus. Der hat aber die Tendenz, ethnozentriert zu sein.


Wie sollten Filme und Serien deiner Meinung nach das Thema Diskriminierung aufgreifen und verhandeln?


Wir sind jetzt an dem Punkt, dass Sichtbarkeit über Themen wie Rassismus in der populären Kultur möglich wird. Wenn man sich anschaut, wie Ali porträtiert wurde, kann man einerseits sagen, dass er gut dargestellt wurde und andererseits aber nicht, viel zu naiv, viel zu freundlich. Und das war Absicht, denn sie durften ihn nicht missrepräsentieren, weil es Diskriminierung gegen migrantische Arbeiter:innen gibt. Diese rein positive Darstellung ist also der erste Schritt. Von hier aus kann man sich langsam einer realistischen, vielfältigen und inklusiven Darstellung annähern. Das ist unausweichlich.


Wie sieht es denn mit dem Thema soziale Ungerechtigkeit in Südkorea in der Serie aus, was erzählt uns Squid Game darüber?


Es geht darum zu zeigen, dass Klassenmobilität kaum möglich ist. Das Problem in Südkorea heute ist, dass du kaum eine Chance hast, wenn du nicht mit dem Silberlöffel – oder Goldlöffel – im Mund geboren bist. Wenn du nicht mit Geld auf die Welt gekommen bist, wird es sehr schwer werden, allein mit Leistung weiterzukommen. Wir leben in einer Zeit, in der diejenigen mit Kapital einfacher und schneller Erfolg haben als diejenigen ohne. Marginalisierte Menschen existieren in dieser Gesellschaft und diese ist ein ungerechter Ort. Die Idee einer fairen Welt, mit der wir aufwachsen, lässt sich in der Realität nicht wiederfinden. Und das wird durch Squid Game symbolisiert, in den Spielen, wo du angeblich immer aufhören kannst und alles gerecht scheint, obwohl Gerechtigkeit nicht wirklich existiert. Es ist eine Abbildung der Gesellschaft. Es gibt dieses berühmte Zitat: »Es ist einfacher, das Ende der Welt zu denken, als das Ende des Kapitalismus«. Und das ist wie in der Serie. Die Devise dort lautet: ›Egal was ich tue, ich habe in dieser Welt keine Chance. Also gehe ich lieber in dieses Spiel, in ein neues System, vielleicht habe ich ja dort etwas Glück.‹ Eine falsche Hoffnung.


Die Serie zeigt letztlich, in welche apokalyptische Richtung sich eine kapitalistische Welt bewegt. Alternativen für eine bessere Gesellschaft, wie z. B. die Umverteilung von Vermögen oder gerechte Löhne, werden dort nicht angeboten. Obwohl die Serie zum Entertainment, zum Vergnügen produziert wurde, kann eine Mainstream-Serie wie Squid Game auch politisch etwas bewirken?


Ja. Selbst wenn wir soziale Probleme nur sichtbarer machen in einem popkulturellen Medium, Film, TV-Serie etc., reicht es, um ins Gespräch zu kommen. Das ist der beste Weg, wie Veränderung über Kultur implementiert werden kann. K-Drama kann vielleicht nicht direkt Reformen anstoßen, aber es ermöglicht, Debatten anzustoßen, für sie Bewusstsein zu schaffen, sie sichtbar und zugänglicher zu machen. Ich denke, das ist eine Art und Weise, wie man Meilensteine für soziale Veränderungen legen kann. Die Serie bringt das Leben von marginalisierten Personen ans Licht und zeigt die strukturellen Probleme in Südkorea. Ein Beispiel für die politische Bedeutung von Popkultur hat z. B. der Film Parasite (2019) von Bong Joon-ho aufgezeigt. Nach dem Film kam es tatsächlich zu einer Reform für Kellerwohnungen (Anm. 2). Wir sehen also Veränderungen. Wo Popkultur soziale Probleme sichtbar macht, setzen manchmal Transformationsprozesse ein. Auch wenn es keine direkte Reform geben mag, diese Fähigkeit, Bewusstsein zu wecken, eine Konversation zu starten, ist doch schon etwas!


Das Interview wurde am 26. November 2021 geführt. Einen Kommentar von Victoria Atansov zum Thema findest Du hier!


ANMERKUNGEN


Anm. 1: Das Phänomen Heiratsmigration, abwertend auch »Katalogehen«, ist vor allem aus Südkorea bekannt und bezeichnet den Einkauf von vorwiegend Ehepartnerinnen. Dies betraf vor allem Frauen aus dem südostasiatischen Raum.


Anm. 2: Gemeint ist eine Initiative der südkoreanischen Regierung, bei der ca. 1500 Kellerbehausungen ausgebaut wurden, um die Lebenssituation von prekären Menschen zu verbessern. Der Film zeigt unter anderem, wie hoch die Gefahr von Überflutung ist.


ZUR PERSON

Ji-Yoon An ist momentan als Juniorprofessorin an der Nanyang Technological University in Singapur zu Gast. Sie hat sich auf Koreanischen Film spezialisiert und ihren Doktor an der Universität Cambridge erworben. Dafür untersuchte sie zeitgenössisches Koreanisches Kino, aber auch Koreanisches Kino allgemein. Weil koreanische Medien- bzw. Kulturwissenschaften zwar eine wachsende, aber noch relativ kleine Forschungsdisziplin sind, beschäftigt An sich aktuell auch mit K-Drama.

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