»Die Gesellschaft ist ungerecht. Die Idee einer fairen Welt, mit der wir aufwachsen, lässt sich in der Realität nicht wiederfinden. Und das wird durch Squid Game symbolisiert.« (Ji-Yoon An) In der südkoreanischen Netflix-Serie Squid Game (2021) wird Kapitalismus im Kleinformat nachgespielt und dessen Versprechen auf ein besseres Leben ad absurdum geführt.
Kommentar von Vic Atanasov & Charlotte Rathjen
Foto: Noh Juhan|Netflix
Achtung Spoiler-Alarm!
Prekäre Lebensumstände und angehäufte Schuldenberge bringen die Spieler:innen in Squid Game dazu, für ein Preisgeld Kinderspiele auf Leben und Tod zu spielen. Es ist eine apokalyptische Vorschau einer kapitalistischen Zukunft: Menschen werden zur Ware und sind nicht mehr als eine Nummer, auf die die »VIPS« – allesamt reiche Männer – ihre Wetten abschließen können. Prekär lebende Menschen werden zu Spielfiguren der Reichen.
Noch bevor die Spiele starten, wird ihnen die Wahl gelassen: »Wollt ihr zurück in euer lausiges Leben und euch von Gläubigern jagen lassen?« Die Mehrheit bleibt; ihre »freie« Wahl zeigt die Tragweite ihrer prekären Lebensrealitäten. Über ihren Köpfen im Schlafsaal hängt ein transparentes Sparschwein – jedes Menschenleben ist 100 Millionen Wert. Im Kapitalismus wird eben nicht Gott, sondern Geld angebetet. Die Serie spielt mit der Hoffnung auf die große Chance, auf etwas Glück – Erfolgsrezept kapitalistischer Gesellschaften. Sie zeigt genauso, dass die Realität für die meisten anders aussieht: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer und Ungleichheiten bleiben resistent.
Dass rassistisch motivierte und diskriminierende Strukturen diese Ungleichheiten hervorrufen können, wird über den Nebencharakter Spieler 199, Abdul Ali (gespielt von Anupam Tripathi), symbolisiert. Neben der aus Nordkorea geflüchteten Kang Sae-Byeok, Spielerin 067, ist er die einzige migrantische Figur in Squid Game. Er kommt aus Pakistan und weil sein Boss ihm seinen Lohn nicht zahlen will, versucht er im Spiel einen Weg aus der bedrohten Existenz seiner ganzen Familie zu finden.
Sein Leben wird als Arbeiter in einer Fabrik skizziert und offenbart die Ausbeutung im Niedriglohnsektor für Zugewanderte. In einer skurrilen Szene steht Ali im Büro seines Arbeitgebers und fragt nach seinem Lohn. Die Kamera eröffnet uns den Blick des Chefs. Er spielt nicht nur irgendein Onlinegame, sondern auch den mittellosen Arbeitgeber. Nachdem Ali ihn mehrmals um sein Geld bittet und von seinem Arbeitgeber rassistisch beleidigt wird, kommt es zu einem Kampf zwischen den beiden. Es endet, als die Hand seines Chefs in einer Presse zerquetscht wird und Geld aus seiner Brusttasche auf den Boden fällt. Ali hebt es nach kurzer Überlegung auf und flieht. Seine Arbeitsstelle hat er damit sicher verloren. In der nächsten Szene verabschiedet er sich von Frau und Kind, die er mit dem Geld zurück nach Pakistan schickt.
EIN »MIGRANT AUS DEM BILDERBUCH«
Ali ist zuvorkommend, loyal und spricht fließend Koreanisch. Ein »Migrant aus dem Bilderbuch«. Ein genauerer Blick auf den Charakter hinterlässt jedoch einen ambivalenten Eindruck: Es wird klar, dass seine pakistanische Herkunft ihn gegenüber den anderen Spieler:innen benachteiligt. Er kann zum Beispiel nicht wie andere Spieler:innen auf die Erinnerungen an die Kinderspiele zurückgreifen. Wissen aus den früheren Tagen verschafft natürlich einen Vorsprung: Zum Beispiel wenn sein Mitspieler Nummer 218, Sang-Woo, eines der Spiele anhand der Kulisse erkennt und dadurch seine Ausgangsbedingungen erleichtert werden.
Durchweg scheint er in der Serie immer wieder auf seine Mitstreiter:innen angewiesen zu sein: Ob das geliehene Handy, die Spende für einen Fahrschein, ein Essen oder das kulturelle Wissen über die Spiele. Diese Freundlichkeit ist jedoch nicht altruistisch. Irgendwann wird von ihm eine Gegenleistung eingefordert: Sein Leben, das er freiwillig für die Rettung eines anderen hergeben soll. Der Tausch klingt nicht ganz fair. Alis Ergebenheit wird hier auf die Probe gestellt.
Von anderen Spieler:innen wird er nicht gern gesehen. Eine Spielerin fragt nach dem Teambuilding vor ihm in die Runde: »Aus welchem Land kommst du? Du bist doch illegal hier, oder? Soll der fremde Typ echt in unserem Team bleiben?«. Niemand sagt etwas. Keine:r verhält sich solidarisch.
Im Vergleich zu den anderen Hauptfiguren wirkt Alis Charakter unterkomplex gezeichnet, die Entwicklung seiner Geschichte und sein Ende voraussehbar. Natürlich ist es wie sonst auch mit Marginalisierten in fiktiven Geschichten: Sie sterben. Gut genug, um auf ein scharfes Thema hinzuweisen, aber nicht wichtig genug, um bis zum Ende zu bleiben. Man ist kurz traurig, aber es geht weiter.
Lies hier ein Interview mit Filmwissenschaftlerin Ji-Yoon An zum Thema oder schaue es Dir an!
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